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Venezuela: Mehr als ein Referendum


Am 15. August fand das Abwahlreferendum gegen den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez statt. Es brachte einen eindeutigen Sieg für den Präsidenten. Wie die Bewegung im Vorfeld des Referendums gezeigt hat, geht es in Venezuela jedoch längst um mehr als um den Kampf zwischen Präsidenten und Opposition – es geht um die Frage, wer die Macht in der Gesellschaft hat.

Venezuela: Mehr als ein Referendum


Am 15. August fand das Abwahlreferendum gegen den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez statt. Es brachte einen eindeutigen Sieg für den Präsidenten. Wie die Bewegung im Vorfeld des Referendums gezeigt hat, geht es in Venezuela jedoch längst um mehr als um den Kampf zwischen Präsidenten und Opposition – es geht um die Frage, wer die Macht in der Gesellschaft hat.

Hugo Chávez ist ein autoritärer, undemokratischer Präsident – sagen zumindest die rechte Opposition in Venezuela, die USA und die internationalen Medien. Dabei scheinen diese Herren und Damen geflissentlich zu vergessen, dass in kaum einem anderen Land in den letzten Jahren so oft gewählt wurde wie in Venezuela (im Übrigen immer mit einem eindeutigen Sieg für Hugo Chávez bzw. für die von ihm ins Leben gerufene bolivarische Bewegung). Und sie scheinen zu vergessen, dass es Chávez war, der dazumal jene Staatsverfassung zur Volksabstimmung vorlegte, welche die Abwählbarkeit aller gewählten Inhaber öffentlicher Ämter durch die Bevölkerung vorsieht – vom Staatspräsidenten über die Abgeordneten bis hin zum kleinsten Dorfbürgermeister und den Mitgliedern der Stadt- und Gemeinderäte. Die Bevölkerung in Venezuela, vor allem die Armen, die bäuerliche Bevölkerung und die ArbeiterInnen haben diese Fakten jedoch nicht vergessen und bescherten Hugo Chávez im Abwahlreferendum am 15. August einen weiteren Sieg.

Wem gehört die Geschichte

Wenn die einen plötzlich vergessen und die anderen immer öfter erinnern, dann ist auch dies ein symbolisches Zeichen für eine Gesellschaft, die sich im revolutionären Umbruch befindet. Während die Bourgeoisie ihr Gedächtnis zu verlieren scheint, ihre eigenen schönen Worte über Demokratie und Rechtsstaat durch ihr politisches Auftreten offen verhöhnt, beginnt das Gedächtnis der Mehrheit der Bevölkerung erst richtig in Fahrt zu kommen. Eine Folge davon: die Geschichte des eigenen Landes wird neu interpretiert und angeeignet.
Kein Wunder ist es deshalb, dass Hugo Chávez das Abwahlreferendum als neue Schlacht von Santa Inés bezeichnet hat. Warum dieses historische Zitat? Die Schlacht von Santa Inés (1859) war ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der Klassenkämpfe in Venezuela. Eine Schlacht, in der sich eine Volksmobilisierung den von der Oligarchie geführten Truppen gegenüber sah. Für Chávez war der Vergleich mit der Schlacht von Santa Inés deshalb besonders wichtig, weil er damit sein politisches Vorgehen rechtfertigen wollte. Militärisch ging die Schlacht von Santa Inés nämlich deshalb in die Geschichtsbücher ein, weil General Zamora dabei die Truppen der Oligarchie durch einen Scheinrückzug auf ein Schlachtfeld locken konnte, das für ihn vorteilhaft war. Die Botschaft von Chávez war dabei klar: Selbst wenn die venezolanische Rechte das Recht auf Abwahl benutzen will, um damit den Präsidenten zu stürzen; selbst wenn die von ihr veranstaltete Unterschriftensammlung ein einziger Betrug war; selbst wenn dabei die Unterschriften von Personen auftauchten, die schon verstorben waren, aber immer noch im Wählerverzeichnis aufgeführt wurden – wir geben dem Druck nach und werden dem Referendum zustimmen, und zwar als taktischer Scheinrückzug. Aus der Sicht der Bewegung hätte es dieses Scheinrückzug allerdings nicht bedurft. Der Vergleich mit der Schlacht von Santa Inés war für die Bewegung weniger als militärisch-taktsicher Sicht wichtig, sondern aus sozialen Gründen: die Mobilisierung der unteren Klassen konnte damals die Oligarchie schlagen und sie kann es heute! Noch eine weitere Lehre hält die Schlacht von Santa Inés für die bolivarische Bewegung bereit: obwohl gegen die Truppen der Oligarchie siegreich, wurden die Aufständischen damals später von ihrer eigenen Führung verraten.

Hasta la victoria siempre!

Die Auseinandersetzung in Venezuela ist jedoch keine hitzige Geschichtswerksstatt, sondern ein Kampf um die Grundlagen der Gesellschaft: wer hat die Regierungsmacht, wem gehört die Ökonomie, wem gehorchen die Medien? Das Referendum war Ausdruck dieses Kampfes, und hat deshalb alle Gemüter bewegt. Die Partizipation der Bevölkerung war bemerkenswert, alle wussten, was auf dem Spiel stand. Teilweise standen die Menschen bis zu 10 Stunden Schlange für die Stimmabgabe. Die Wahlbeteiligung lag bei ca. 90 Prozent. Das Ergebnis war eindeutig: 58,95% stimmten „NO“ und somit gegen die Abwahl von Chávez. Als klar wurde, dass die Opposition geschlagen worden war, sprang der Funke der Freude über. Die Straßen rund um den Präsidentenpalast Miraflores in Caracas waren von Chávez-AnhängerInnen überflutet, die den erneuten Sieg der Bolivarischen Revolution feierten.
Der Sieg beim Referendum ist jedoch nur der sichtbare Endpunkt der Wahlmobilisierung in den letzten Monaten. Diese Mobilisierung und vor allem die Art und Weise, wie sie organisiert war, zeigen, dass es in Venezuela längst um mehr als um ein bloßes Referendum geht. Denn für das Abwahlreferendum wurden so genannte Comandos Maisanta („Maisianta-Kommandos“) ins Leben gerufen. Was sind nun diese Kommandos? Es sind etwas andere „Wahlkampfbüros“. Kein war room, von dem aus über ein Call Center und bezahlte WahlkämpferInnen eine Kampagne vom Stapel gelassen wird, sondern eine kleine Massenorganisation, die angefangen auf Bezirksebene, über die regionale bis hin zur nationalen Ebene den Kampf um das Referendum unter aktiver Einbeziehung der Bewegung in jeden Winkel des Landes tragen sollte. Die Fortsetzung dieser Kommandos auf lokaler Ebene stellten zehnköpfige Komitees in den Wohnvierteln dar, so genannte patrullas electorales („Wahlpatrouillen“). Sie sollten mit jedem Bewohner des Viertels Gespräche führen, die Registrierung im Wählerverzeichnis unterstützen und andere Aufgaben übernehmen.
Die Bevölkerung nahm den Appell zur Gründung dieser „Kommandos“ und „Patrouillen“ begeistert auf. Im ganzen Land begannen Hunderttausende in ihren Stadtvierteln und Dörfern und am Arbeitsplatz solche Strukturen zu gründen.

Mobilisieren und Kanalisieren

An dieser Stelle ist vielleicht eine kurze Erläuterung vonnöten: Seit seinem Amtsantritt 1998 sah sich Chávez zwei Problemen gegenüber. Einerseits waren seine sozialen Reformprogramme über die bestehenden Strukturen des Staatsapparates nicht durchzuführen. Wie will man eine Bildungsoffensive mit einem Bildungsministerium durchziehen, das es 40 Jahre lang verabsäumt hat, das Notwendigste in diesem Bereich zu tun? Viele Beamte, Vertreter der alten politischen Kaste, waren Chávez darüber hinaus feindlich gesinnt. Auf der anderen Seite stützte sich Chávez auf die Masse der ArbeiterInnen und Armen. Diese trat Chávez jedoch nur durch den Druck ihrer Mobilisierungen gegenüber. Massenorganisationen, die den Menschen die Möglichkeit zu Partizipation und Organisierung gegeben, den ungestümen Druck der Bewegung gleichzeitig kanalisiert hätten, fehlten zu Beginn völlig. Die Lösung kam in Form jener Programme, die als misiones bekannt geworden sind. Davon gibt es bis jetzt ungefähr zehn. Jede misión hat einen speziellen Zweck bzw. Auftrag (z. B. die Misión Ribas, die das Nachholen der Sekundarstufe ermöglichen soll). Sie umgehen zum einen die eigentlich zuständigen Ministerien (sind damit so etwas wie eine „Parallelstruktur“ zum Staat), bieten den Menschen in den Vierteln andererseits die Möglichkeit von diesen Programmen zu profitieren bzw. sich an ihnen in der Durchführung zu beteiligen. Sie organisieren die Menschen und geben ihnen ein politisches Instrument in die Hand. Allerdings, und dies ist entscheidend: die Bewegung um die misiones kann zwar mitdiskutieren, sie können jedoch nicht wirklich Politik machen! Die wichtigen Entscheidungen werden alle von der Regierung getroffen, die Bewegung hat keine Möglichkeit den politischen Kurs zu bestimmen. Der widersprüchliche Doppelcharakter der Strukturen, die von Chávez für die Bewegung geschaffen werden, ist natürlich Anlass für viele Konflikte, in denen es immer um die zentrale Frage geht: wer hat die Entscheidungsmacht? Nicht anders verlief es mit der Struktur, die Chávez für das Referendum ins Leben gerufen hat – die Comandos Maisanta. Hier kam es jedoch erstmals zu einem für alle sichtbaren Ringen zwischen bürokratischen Interessen und den Ansinnen der Bewegung

Nieder mit der Bürokratie

Dabei versprachen die Comandos-Maisanta anfangs, demokratischer strukturiert zu sein, wurden sie doch bewusst als geläuterter Nachfolger des so genannten Ayacucho-Kommandos ins Leben gerufen, das aufgrund seiner bürokratischen Struktur für die Mobilisierung zum Referendum völlig ungeeignet war. Diese Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht.
Denn auch die neuen Maisanta-Kommandos wurden auf alte Manier besetzt, nämlich durch Nominierung von oben, ohne Rücksprache mit den AktivistInnen an der Basis. Der Konflikt zwischen der bürokratischen Vorgehensweise der Verantwortlichen und der Massenbewegung an der Basis war dabei vorprogrammiert – einzig, er nahm in diesem Fall eine neue Qualität an. So musste in Caracas die offizielle Vereidigungszeremonie für die Maisanta-Kommandos auf Bezirksebene aufgrund des Drucks der revolutionären Organisationen aus den Bezirken Antimano, 23 de Enero, El Valle, La Vega und anderen, die gegen die ausgewählten Personen waren, abgesagt werden.
In Antimano wurde in einer demokratischen Versammlung ein eigenes Maisanta-Kommando gewählt, das bis heute vom offiziellen Kommando in Caracas nicht anerkannt ist. In El Valle wurden auf einer Großversammlung aus den über 500 TeilnehmerInnen - VertreterInnen aller Straßen und Wohngebiete - Delegierte gewählt, die dem offiziell ernannten Kommando beitreten sollten. Im Bezirk 23 de Enero verhandelten über 1000 Versammelte bis in die frühen Morgenstunden mit VetreterInnen des Maisanta-Kommandos Caracas, bis sie eine annehmbare Besetzung des lokalen Kommandos erreicht hatten. Das sind nur einige von vielen Beispielen aus dem ganzen Land. Es gab viele Fälle, wo durch Druck von unten die, Aufnahme von anerkannten AktivistInnen in die Kommandos erreicht wurde. Andernorts wurden alternative Kommandos gegründet, deren Verhältnis zu den offiziellen Strukturen mehr oder weniger angespannt ist. Diese Konflikte sind Ausdruck des Misstrauens der revolutionären Basis gegenüber bürokratischen Strukturen und des Wunschs nach direkter Beteiligung an der demokratischen Organisation der Bewegung.
All dies fand zuerst hauptsächlich in den Arbeiterwohngebieten und den Armenvierteln statt, fand aber auch in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung seinen Ausdruck. Eine Reihe klassenkämpferischer Gewerkschaften haben in den Betrieben eigene Maisanta-Kommandos gegründet. In Betrieben und regionalen Organisationen des neuen Gewerkschaftsdachverbands UNT fanden Diskussionen über die Beteiligung der ArbeiterInnen an der "Schlacht von Santa Inés" statt. Das ist umso beachtlicher als die Angelegenheit ja vor allem als Wahlkampf dargestellt wurde, der konsequenterweise in den Stimmbezirken und nicht am Arbeitsplatz ausgetragen gehört.

Die Reaktion der Reaktion

Und die rechte Opposition? Jene FührerInnen der Bolivarischen Bewegung, welche argumentierten, dass mit dem Sieg beim Referendum die Stimmen der bürgerlichen Opposition verstummen würden, wurden in der Praxis bereits widerlegt. So kam es noch am Tag des Referendums zu einigen gewaltsamen Zusammenstößen. Nachdem die Opposition das Referendum verloren hatte, hofften ihre wichtigsten Vertreter, die Gelegenheit nutzen zu können, um neue Zusammenstöße und Unruhen zu provozieren. Aber ihre imperialistischen Verbündeten haben verstanden, dass die Zeit für einen neuerlichen Putschversuch noch nicht reif ist - einen Putsch, der zu einem Bürgerkrieg führen würde, den sie zurzeit sicherlich verlieren würden. Die Konterrevolutionäre werden ihre Kräfte jedenfalls wieder sammeln und für eine neue Offensive vorbereiten.
Die Opposition kann nicht durch Wahlen, Referenden oder Verhandlungen zufrieden gestellt werden. Sie wird erst ruhen, wenn die Revolution zerschlagen ist. Solange die Oligarchie ihre Hände auf wichtigen Sektoren der Wirtschaft hat, wird sie die Bolivarische Revolution sabotieren und untergraben. Der Sieg im Referendum und die Schwächung der Rechten bieten aber eine ausgezeichnete Ausgangsbedingung, um die Revolution weiter zu vertiefen.

Vorwärts bis zum … nieder mit…

Um die Revolution voranzutreiben, ist es unerlässlich, dass die in den letzten Monaten entstandenen Strukturen der revolutionären Bewegung zu Instrumenten des politischen Kampfs um die Macht gemacht werden. In jedem Stadtteil, jedem Betrieb sollen sich die AktivistInnen treffen können, um das weitere Vorgehen zu diskutieren und um ihre VertreterInnen zu wählen. Sie sollten die lokale Verwaltung übernehmen und über die Vergabe der finanziellen Mittel entscheiden, außerdem müssen Delegierte für eine nationale revolutionäre Versammlung gewählt werden, die wiederum die Sprachrohre der Revolution wählen soll. Voraussetzung ist dabei, dass alle Delegierten jederzeit abwählbar ist.
Entscheidend sind in einem revolutionären Prozess jedoch nicht nur die Strukturen, mit denen die Macht wirklich demokratisch ausgeübt werden kann. Von nicht geringerer Bedeutung ist das Programm, mit dem solch eine Vertiefung der Revolution erreicht und das in den genannten Versammlungen diskutiert, abgestimmt und dann umgesetzt werden kann. Orientiert man sich z. B. am marxistischen Programm der venezolanischen CMR (Corriente Marxista Revolutionaria), so wird ein solches Programm unter anderem folgende Punkte enthalten:
- Vergesellschaftung des Bankensystems, der großen Lebensmittel- und Transportunternehmen, der Grundstoffindustrien (vor allem der Erdölgesellschaft PDVSA) sowie des Binnen- und Außenhandels. Keine bürokratischen Verstaatlichungen, sondern Arbeiterkontrolle und Arbeiterverwaltung in allen vergesellschafteten Bereichen.
- Keine Zahlung der Auslandsschulden: die Ressourcen des Landes sollten stattdessen für produktive Zwecke eingesetzt werden, die Wirtschaft darf nicht länger von der Preisentwicklung auf dem Erdölmarkt abhängen und muss auf eine solide Basis gestellt werden.
- Aufstellung von Selbstverteidigungsbrigaden in jedem Stadtviertel, Betrieb, Stadt und Dorf zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der Menschen. Für den Aufbau einer ArbeiterInnen- und Volksmiliz zur Verteidigung der Revolution gegen innere und äußere Aggression.
- Arbeiterkontrolle über die Massenmedien um der permanenten Medienhetze durch die Konterrevolution ein Ende zu setzen.

Tragen kann ein solches Programm nur eine wirkliche Arbeiterregierung, die sich auf ArbeiterInnen- und Volksversammlungen stützt. Schützen (im Sinne der Absicherung aller erreichten Errungenschaften) kann ein solches Programm nicht nur der Kampf in Venezuela selbst – auch die aktive internationale Solidarität ist gefordert. Der wichtigste Schutz aller erkämpften Errungenschaften in Venezuela liegt allerdings in der Ausweitung der Revolution auf ganz Lateinamerika.

Anmerkung: von Marion Hackl, SJ Wien/Alsergrund

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